Hinterfragt: Unterschiede und Einzigartigkeit

Christen erziehen unterschiedlich. Gibt es also überhaupt so etwas wie „christliche Erziehung“? Und wenn dem so ist, woher kommen dann diese immensen Unterschiede, die auch in Gemeinden zu massiven Spannungen führen können? Noch spannender wird es, wenn wir Christen aus verschiedenen Kulturen, etwa aus Brasilien, den USA, Russland oder China vergleichen.

Sollten westliche Christen genauso erziehen, wie Christen in China oder Indien? Gibt es so etwas wie ein kulturübergreifendes christliches Ideal? Ich weiß, dass diese Erziehung in Deutschland in meiner Umgebung nicht in dieser Form funktionieren würde. Im Gegenteil. Meine Kinder würden sich nicht nur von mir, sondern auch von Gott abgelehnt fühlen. Sie haben ganz andere Erwartungen, die ich nicht in der Hand habe. Sie sind teilweise kulturell geprägt. Sicher können Christen eine Anti-Kultur aufbauen, aber die Grenzen sind schnell erreicht. Letztlich gilt es darum, unsere Kinder in unserer Kultur mit Jesus in Verbindung zu bringen. Ich will meinen Kindern zeigen, welchen großen Schatz Gott in sie hineingelegt hat, ihre Potenziale zur Entfaltung bringen und dabei auf den großen Schöpfer hinweisen. Gleichzeitig will ich ihnen zeigen, dass sich nicht alles um sie dreht, Verbindlichkeit wichtig ist und es Autoritäten gibt, die Gott eingesetzt hat – auch wenn das nicht in meine Kultur passt.

Am Ende der Gedankenreise stand die Frage: Gibt es überhaupt so etwas wie „christliche Erziehung“? Was macht denn die Erziehung überhaupt „christlich“?

Wie Erziehung konkret aussieht hat sich immer wieder verändert. In anderen Kulturen und Zeiten war und ist z. B. Respekt vor Autoritäten deutlich wichtiger. Selbst konservative westliche Christen können da nicht mithalten. Die Spannweite an unterschiedlichen Erziehungsstilen von christlichen Eltern in Deutschland ist groß. Die Unterschiede zu Eltern anderer Kulturen sind aber noch größer. Wie schnell gibt es im Alltag Probleme, weil Eltern von Kindern, mit denen sich „unsere Kinder“ anfreunden, so ganz anders erziehen. Der wertkonservative Christ wird in vielen Fällen mit dem traditionellen Nachbarn besser zurechtkommen, als mit einem asiatischen oder orientalischen Christen – zumindest wenn es darum geht, die Kinder gemeinsam in eine Richtung zu lenken.

Fakt ist: „Die“ christliche Erziehung, wie wir sie uns vorstellen, gibt es nicht. Auch in anderen Epochen galten andere Tugenden. Dem modernen Menschen wird es befremden, dem Kind durch Schläge Liebe zu zeigen. In der antiken Kultur gab es dieses Erziehungsmittel und es war alternativlos. Es gab auf der anderen Seite Kinder, um die sich niemand kümmerte, die keinerlei Wert hatten und verwilderten. Auf der anderen Seite gab es Kinder, die das Glück hatten, erzogen zu werden. Kennzeichen christlicher Erziehung waren und sind Liebe, Vergebung und Hinwendung zum Kind. Daran hat sich bis heute wenig geändert. Ansonsten ist vieles anders geworden.

Christen sind unterschiedlich. Jeder bringt seine Persönlichkeit mit. Auch in die Erziehung. Es gibt heute Helicopter- und Rasenmähereltern, die ihre Kinder immer besser beschützen. Auch wenn Übergriffe gegen Kinder deutlich nachgelassen haben und das Verkehrsunfallrisiko seit den 1970ern durch bessere Verkehrsführung und Straßenplanung auf einen Bruchteil gesunken ist, lassen immer weniger Eltern ihre Kinder alleine in den Kindergarten laufen. Die Ängstlichkeit ist gewachsen. Andere Eltern setzten bewusst einen Gegenpol. Die Unterschiede sind groß – auch unter uns Christen.

Jetzt gibt es ein Problem: Menschen neigen dazu, ihr Handeln rational zu begründen. Sie gaukeln sich vor, dass sie überlegt seien und (er-)finden Gründe, die ihr Handeln rechtfertigen. In der Gemeinde werden dann Bibelverse ausgepackt, die die eigene Einstellung belegen sollen. Christliche Eltern merken oft gar nicht, wie stark sie doch von ihrer Persönlichkeit oder Kultur geprägt sind. Stattdessen belügen sie sich, indem sie biblische oder christliche Gründe für ihre Erziehungsausrichtung geltend machen. Unsere Wahrnehmung und Bibelerkenntnis ist – leider auch in Bezug auf Glaubensinhalte – selektiv, bruchstückhaft und von unseren Motiven geleitet. Wir sprechen anderen möglicherweise sogar ab, christlich zu erziehen, weil diese zu offen, eng, führend oder zurückhaltend sind. Dabei kennt die Bibel kein ausgearbeitetes Erziehungskonzept. Damit lässt sich nicht jeglicher biblischer Anspruch relativieren. Natürlich sind provokante Aussagen der Bibel, die uns ärgern, wichtige Anstöße. Wir können sie nicht mal eben schnell wegwischen. Und doch lässt sich vieles auch unterschiedlich interpretieren. Unsere Aufgabe ist es, uns dem Anspruch zu stellen, ihm nicht auszuweichen, aber auch nicht jegliche Behauptung unkritisch zu übernehmen.

Ganz ehrlich: Es war mir peinlich, mit meinen Kindern in Fernost unter ganz anders geprägten Christen unterwegs zu sein. Ihre Kinder waren diszipliniert, zuvorkommend und hilfsbereit. Das, was ich wahrgenommen habe, kam aus tiefstem Herzen und nicht aus Zwang. Christliche Eltern zeigen ihren Kindern ihre Liebe durch Konsequenz, spielen selten mit ihnen oder gehen auf Familienurlaube oder Exkursionen, wie es bei uns üblich ist. Und doch hatten sie stets ein offenes Ohr und eine herzliche Beziehung. Aus unserer Sicht ist die Erziehung definitiv autoritär mit einem hohen Anspruch, gehorsam zu sein. Das Klischee der autoritären Erziehung, die Marionetten erzeugt, passt aber einfach nicht.

Eltern in westlichen Kulturen geht es um Förderung, Entfaltung und Behütung. Im christlichen Bereich gibt es „bindungsorientierte“ Erziehung oder darum, Gottes Gaben zu entdecken, um diese in Gottes Reich einzusetzen. In fernöstlichen anderen Kulturen stärker darum, soziale Normen einzuhalten, Nachteile in Kauf zu nehmen und dadurch Christus zu bezeugen. Respekt gegenüber Autoritäten ist dort wichtig. Hier wie dort ist es wichtig, seine Kräfte für Gott einzubringen – der Segen ist groß.

Christliche Eltern so unterschiedlich, wie Eltern eben unterschiedlich sind. Die einen sind ängstlich und überbehütend, andere mutiger und wieder andere konsequenter. Manche leben in einer egozentrischen Kultur, bei anderen gilt nur die Gemeinschaft. Der Glaube wird entsprechend unterschiedlich gelebt – und genauso werden Kinder unterschiedlich erzogen.

Nein, es ist nicht alles toll. Beides birgt Gefahren. Die egozentrische ICH-Bezogenheit mit dem Fokus auf das eigene Wohlergehen ist genauso gefährlich, wie eine bedingungslose Anpassung an nicht hinterfragten Normen. Wer mit Christus unterwegs ist, darf darauf vertrauen, dass er ihm die entscheidenden Dinge zeigt. Er wird nicht alles richtig machen oder erkennen – aber das, worauf es ankommt.

Ein chinesischer Christ wird mit dem chinesischen Nachbarn in Erziehungsangelegenheiten vielleicht sogar besser zurechtkommen, als mit einem europäischen Christen. Und der indische Christ mag schockiert sein, wenn er westlich individualistisch geprägte christliche Eltern kennenlernt, die seine kollektivistischen Normen nicht teilen.

Aus christlicher Sicht geht es zentral, kultur- und zeitübergreifend immer um die Begegnung mit Jesus Christus. Diese Begegnung mit Jesus ist so einzigartig, wie die Beziehungen zwischen Jesus und den vielen Menschen im Neuen Testament. Maria, Nikodemus, Zachäus oder Lazarus – sie alle hatten ganz unterschiedliche Erfahrungen. Mit der Begegnung verbunden sind immer eine lebendige Hoffnung und dadurch ein veränderter Umgang mit anderen Menschen, die als Geschöpfe Gottes einen bedingungslosen Wert haben. Befreite Menschen können mit ihrer Schuld umgehen, vergeben und Vergebung annehmen. Sie sind mit Jesus unterwegs, der sie nicht alleine lässt und als Ratgeber, Tröster und Beistand zur Seite steht.